Menschenswetter-Protokolle stützen aktuelle Forschungsergebnisse

Vielfältiger Wettereinfluss auf Migräne

von Holger Westermann

Vortrag Symposium Potsdam

Inwiefern das Wetter ein wirksamer Trigger für Migräne-Schmerzattacken ist, wird unter Medizinern heftig diskutiert. Einige Studien erkennen einen starken Zusammenhang, andere können keinen Effekt feststellen. Die Mehrzahl der Patienten reklamiert für sich persönlich einen eindeutigen Wettereinfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Schmerzattacken - womöglich zu recht.

Zwei aktuelle Studien und eine erste Auswertung der Menschenswetter-Protokolle von Migränepatienten erkennen eine weit verbreitete Wetterempfindlichkeit bei Migräne. Bei bestimmten Wetterlagen oder zu bestimmten Jahreszeiten steigt die Wahrscheinlichkeit für Schmerzattacken. Doch nicht alle Menschen, die mit Migräne leben müssen, reagieren sensibel aufs Wetter; obwohl sich fast alle Patienten für wetterempfindlich halten.

In der Studie einer Arbeitsgruppe um Privatdozent Dr. Uwe Reuter an der Charité (Berlin, Deutschland) wurden die Schmerztagebücher von 100 Migränepatienten ausgewertet. In den Tagebüchern notierten die Patienten ein Jahr lang alle 4 Stunden die aktuelle Schmerzbelastung. Insgesamt konnten 219.000 Messintervalle ausgewertet werden, davon waren 15.030 (6,9%) Schmerzintervalle. Dabei variierte die Schmerzbelastung von Patient zu Patient sehr stark; von 16 (0,7%) bis 540 Migräne-Ereignisse (24,7%).

Als typische Migränemonate erwiesen sich Januar, Mai und Juli (7,2 - 7,4%), während die Schmerzattacken im November, August und März seltener vorkamen (6.4 - 6.5%). Vergleichbare Unterschiede konnten auch zwischen einzelnen Wochentagen festgestellt werden. Dienstag und Mittwoch waren besonders stark belastet (7,1%), der Sonntag weniger (6,4%). Größere Unterschiede ergaben sich bei der diurnalen Rhythmik, den physiologischen Veränderungen im Tagesverlauf. Mit dem Schlaf-Wach-Rhythmus verändern sich Hormonspiegel, körperliche und geistige Aktivität, mentale und soziale Anspannung sowie Nahrungsaufnahme und der Konsum von Genussmitteln. Hier liegt die Spannweite zwischen einem Minimum um Mitternacht (3,3%) und einem Maximum am frühen Morgen (9,0 - 9,1%). Diese detaillierten Schmerztagebücher wurden mit den meteorologischen Daten der Wetterstation Berlin Alexanderplatz des Deutschen Wetterdienstes (DWD) verglichen. Als relevante Wetterdaten wurden stündlich notiert: Luftdruck (Hektopascal, hPa), Temperatur (°C) und die relative Feuchte (%).

Eine Gesamtanalyse aller Schmerztagebuch-Wetterdaten-Paare ergab keinen Wettereinfluss auf die Migräneereignisse. Bei der genauen Analyse zeigte sich jedoch, dass eine kleine Teilgruppe der Patienten (13%) tatsächlich wetterempfindlich ist. Dabei zeigten sich einige Patienten besonders sensibel bei sinkendem Luftdruck, andere bei steigendem Barometerwert.

In ihrem Fazit weisen die Forscher darauf hin, dass die Quote von 13% die Untergrenze der Verbreitung von Wetterempfindlichkeit unter den untersuchten Migränepatienten markiert. Dies sei der statistischen Analyse und den vielfältigen Wettereinflüssen geschuldet. Migräne sei eine komplexe Erkrankung des Gehirns, die durch eine Vielzahl von Zuständen, ausgelöst werden könne - auch durch eine spürbare Veränderung des Umweltfaktors Wetter der dem Körper eine Anpassungsreaktion abverlangt. Jeder Patient reagiere individuell auf diese Herausforderung.

Wie andere sogenannte Triggerfaktoren für Migräne sei wohl auch das Wetter nicht Auslöser der Schmerzattacken. Vielmehr könne während der frühen Ankündigungsphase einer Migräneattacke die Wettersensibilität steigen. Die Patienten empfänden dann den Wettereinfluss intensiver, kurz bevor sie die Schmerzen plagen.

Eine zweite Studie untersuchte den Einfluss der Jahreszeiten und mittelbar auch des Wetters auf die Häufigkeit von Migräne-Schmerzattacken. Auch hier wurden Schmerztagebücher ausgewertet (Migraine Disability Assessment Fragebogen, MIDAS), diesmal von Patienten aus Südkorea. Zwischen Januar 2005 und Dezember 2013 wurden so die Protokolle von 4.423 Patienten heran gezogen, ausgewertet werden konnten nur 769 hinreichend gut geführte Tagebücher.

Bei 104 (13,5%) ergaben sich saisonale Schwankungen der Häufigkeit von Migräne-Schmerzattacken. Diese wurden mit den 665 anderen Protokollen in Hinblick auf gehirnautonome Symptome (cranial autonomic symptoms, CAS), die keiner bewussten Steuerung unterliegen. Dabei zeigte sich ein deutlicher Unterschied zwischen wetterempfindlichen Patienten und Patienten aus der Kontrollgruppe:

  • Bindehautrötung                         25,0% zu 14,0%
  • Tränenfluss                                 20,2% zu 10,8%
  • Augenlidschwellung (Ödeme)      20,2% zu 10,2%
  • Ptosis*                                        23,1 % zu 11,4%
  • Schwitzen im Gesicht                  22,1% zu 11,4%

sowie bei der Häufigkeit von Migräneattacken mit durchschnittlich 15,4 zu 10,4. Patienten, die eine jahreszeitliche und damit wetterabhängige Schwankung der Schmerzbelastung zeigten, wurden dann auch durch CAS stärker belastet. Die Forscher empfehlen daher, bei solchen Patienten eine vorbeugende Behandlung der lästigen oftmals auch mit hohem Leidensdruck einher gehenden Folge- oder Begleiterkrankungen.

In beiden Studien wurde eine Quote von gut 13% für Wetterempfindlichkeit bei Migräne festgestellt, einmal anhand von Wetterdaten direkt, einmal infolge des saisonalen Vergleichs. Fragt man Migräne-Patienten, so klagen deutlich mehr Betroffene über Wetterempfindlichkeit. Zwei Argumente können helfen diese Diskrepanz zu erklären.

Zum einen stützt sich die Berliner Studie (wie die überwiegende Mehrzahl der Untersuchungen zur Wetterempfindlichkeit) auf physikalische Wetterdaten. Doch Menschen haben kein Gespür für Luftdruck, Temperatur und relativer Luftfeuchte. Die Rezeptoren in der Haut messen allein, wieviel Wärme dem Körper verloren geht. So wird feuchtkalter Wind mit +5°C deutlich kühler empfunden als trockenkalte Windstille mit -5°C. Der Körper reagiert jedoch nicht auf den Thermometerwert, sondern auf die gefühlte Temperatur. Dieser errechnete Wert berücksichtigt Temperatur, Luftfeuchte, Wind, Sonnenstrahlung, Wärmespeicherung des Bodens und weitere Parameter. Dies ist die physiologisch relevante Größe, die Körperreaktionen provoziert und sich letztendlich auf die Gesundheit auswirkt.

Den zweiten Aspekt hat das Menschenswetter-Team auf dem Migräne Symposium der Migräne-Liga am 17. September 2015 in Potsdam (Brandenburg, Deutschland) vorgestellt. Auch in den Menschenswetter-Protokolldaten der Migränepatienten zeigte sich eine zweigipflige Verteilung. Einige Patienten waren klar wetterempfindlich, bei anderen konnte keine Korrelation zwischen den speziellen Migräne-Wetter-Vorhersagen des DWD (wie bei Menschenswetter üblich mit der gefühlten Temperatur) und dem Befinden der Patienten festgestellt werden.

Bei der Analyse typischer Trigger für Migräne wie Schlafstörungen, Stress (Reizbarkeit und innere Unruhe), Depressive Stimmung, Motivationsschwäche, Schmerzsensibilität und Muskelverkrampfungen zeigte sich jedoch eine klare Wetterempfindlichkeit. So kann ein symptomverstärkender Wettereinfluss auf diese, als Trigger wirksame, Beschwerden die Wahrscheinlichkeit für eine Migräne-Schmerzattacke erhöhen. Die dabei wirksamen Wettereinflüsse unterscheiden sich jedoch von den unmittelbar Migräne verstärkenden. Dies erklärt, warum bei einer Gesamtanalyse kein für alle Patienten gleichermaßen schmerzprovozierendes „Migräne-Wetter“ gefunden wird.

Einige Patienten reagieren besonders sensibel auf rasche Wechsel der gefühlten Temperatur, beispielsweise Fön und Gewitterschwüle (Temperaturanstieg) oder Kaltlufteinstrom und windiges Regenwetter (Temperatursturz). Diese Gruppe unterliegt sehr wahrscheinlich dem direkten Einfluss des Wetters auf Schmerzattacken. Bei anderen, womöglich der Mehrzahl tatsächlich wetterempfindlicher Migränepatienten, werden die indirekten Effekte wirksam. Hier beeinflusst das Wetter typische Trigger, die sich dann auf die Schmerzbelastung auswirken.

Bislang ist dieser Zusammenhang lediglich plausibel, aber noch nicht durch Daten belegt. Das Menschenswetter-Team fordert daher die Migränepatienten auf, mehr als ein Protokoll zu führen. Wer auch unter Schlafstörungen leidet oder gelegentlich in depressive Stimmung fällt, wer an manchen Tagen gegen starke Motivationsschwäche ankämpft oder wem das soziale Umfeld Gereiztheit und innere Unruhe attestiert, der sollte zusätzlich zum Migräne-Protokoll noch ein weiteres anlegen. Über den Nutzernamen können wir die beiden Datensätze jeden für sich aber auch gemeinsam auswerten. Sie erhalten dann für beide Erkrankungen eine separate Auswertung. Welcher Einfluss bei Ihnen persönlich überwiegt und sich auf Ihren Migräneschmerz auswirkt, können Sie dann anhand der Wahrscheinlichkeitswerte (p-Wert) ablesen. Damit Sie dabei auch unsere Forschung unterstützen, sollten Sie beim Registrieren ein Häkchen setzen bei „Daten zur wissenschaftlichen Auswertung freigeben“.



* Unwillkürliches Herabhängen eines oder beider oberen Augenlider (Blepharoptosis)

Quellen:

Hoffmann, J. et al. (2015): The influence of weather on migraine – are migraine attacks predictable? Annals of Clinical and Translational Neurology 2 (1): 22–28. doi: 10.1002/acn3.139

Shin, Y-W. et al. (2015): Seasonal Variation, Cranial Autonomic Symptoms, and Functional Disability in Migraine: A Questionnaire-Based Study in Tertiary Care. Headache, online veröffentlicht am 21.07. 2015. DOI: 10.1111/head.12613.

Westermann, Holger (2015): Migränewetter - Mythos oder reales Risiko? Vortrag gehalten auf dem Migräne Symposium der Migräne-Liga am 17. September 2015 in Potsdam (Brandenburg, Deutschland).

Erstellt am 10. Oktober 2015
Zuletzt aktualisiert am 13. Oktober 2015

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